In|ter|mez|zo, das: 1. Ein Einschub oder eine Überleitung in künstlerischen Medien. 2. Kleine (unbedeutende) Begebenheit am Rande des Geschehens.
Eigentlich sitze ich gerade an der Geschichte “Schneemond”, der Fortsetzung der Reihe von kleinen Geschichten, die ich mir für dieses Jahr vorgenommen habe. Für jeden Vollmond des Jahres eine. Nun ist der Schneemond (Februar) schon wieder Geschichte, nur die Geschichte ist noch nicht fertig. Die Idee war längst da, aber so richtig geküßt hatte mich die Muse noch nicht. Und dann immer diese Zeitprobleme! Oder anders ausgedrückt – Prokrastination Level Expert.
Also heute sollte es werden. Und tatsächlich, das Grundgerüst der Story stand zu ca. 50%. aber wenn man auf der Arbeit schreibt, wird man zwangsläufig von Zeit zu Zeit abgelenkt…
Rettungsdienst ist vieles. Manchmal anstrengend, manchmal nur warten und Zeit totschlagen. Manchmal aufregend, oft nur banale Routine. Manchmal bedeutet Rettungsdienst bloß Zeuge zu sein, weil man ansonsten nicht viel tun kann, als einfach da zu sein für die, die sich uns anvertrauen. Im Rettungsdienst erlebt man nicht selten tragische Dinge, aber manchmal auch sehr schöne. Oft aber bedeutet Rettungsdienst einfach nur Probleme zu lösen. Von einem eher schönen Einsatz, der letztlich nur einer Problemlösung bedurfte, möchte ich heute erzählen. Wie immer gilt: Namen, Daten, Fakten tun aus rechtlichen Gründen nichts zur Sache. Eventuelle Ähnlichkeiten zu realen Personen … ihr kennt das…
Die Alarmierung führt uns an eine Kreuzung mitten im Ort. Ein älterer Mann, geschätzte Paarundachtzig, liegt auf der Straße, Passanten stehen um ihn herum, kümmern sich, winken uns heran. Der Rollator des Mannes steht auf dem Bürgersteig. Eine Ursache, weshalb er sich in dieser unbequemen Lage befindet, ist erstmal nicht zu erkennen.
Standardvorgehen, langjährig trainiert, vieles läuft quasi als Hintergrundprogramm ab. Beurteilung der Einsatzstelle: Ist sicher, der Verkehrsraum wird mit dem RTW abgeschirmt. Ersteinschätzung des Patienten: wach, keine k(c)ritische Blutung nach außen erkennbar, Atemwege offensichtlich frei, Atmung (Breathing) wirkt augenscheinlich unbeeinträchtigt, K(C)reislauffunktion offensichtlich gegeben. Der Patient wird als unkritisch eingestuft. Soweit, so gut…
“Hallo, was hat Sie denn in diese mißliche Lage gebracht?” Er antwortet, ihm seien die Beine schwach geworden und weggesackt. Er sei nicht gestolpert und es tue ihm nichts weh. Tatsächlich wirkt er unverletzt, bewegt sich soweit normal. Lediglich eine wirklich kleine Beule am Hinterkopf wird später im Verlauf auffallen. Wir entscheiden, den Guten auf seine Füße zu stellen und so aus dieser unwürdigen Situation zu befreien, bedanken uns artig bei den Ersthelfern und verabschieden diese, nachdem sie noch mehr oder weniger wertvolle Hinweise auf das Geschehen und die Herkunft des Mannes geben konnten. Er steht noch etwas wackelig auf seinen Beinen, aber mithilfe seines Rollators eigenständig. Noch auf der Straße beginne ich mit einer Einschätzung der neurologischen Situation: D – zu allen Qualitäten zumindest vordergründig orientiert, der Pupillenstatus ist unauffällig, die grob orientierende Untersuchung auf ein Schlaganfallgeschehen (FAST) ergibt – nichts. Ich schnacke den Mann trotzdem mit in den RTW hinein, obwohl er eigentlich nur den Weg zu seiner Verabredung zum Mittagessen fortsetzen will. Aber so leicht wird man uns nicht los. Immerhin sind wir jetzt erstmal in der Verantwortung, und gerade bei einem solchen Geschehen belasse ich es ganz sicher nicht bei einer flüchtigen Einschätzung, sondern möchte, ja ich muss sogar ein möglichst vollständiges Bild haben, bevor man über eine eventuelle “Entlassung” auf eigenes Risiko reden kann. In der Zwischenzeit haben wir etwas über sein angestrebtes Ziel erfahren, und Nicole setzt den RTW kurzerhand in Bewegung, um den Weg dorthin zu verkürzen. Vielleicht erfahren wir ja von seinem “Date” noch etwas, denn so ganz langsam kommen uns doch ganz leise Zweifel ob des mentalen Status des Mannes, denn er verwickelt sich in leichte Unschärfen und Widersprüchlichkeiten. So befindet sich die gesuchte Person nicht am Zielort. Oder vielmehr nicht mehr, denn sie hat die ehemalige Dienstwohnung schon vor Jahren an die Nachfolger übergeben. Nachbarn bringen Licht ins Dunkel, wir treten den kurzen Weg zum richtigen Ziel an, diesmal zu Fuß. Wir unterhalten uns, und es stellt sich heraus, dass er gute 10 Jahre älter ist, als ich zuerst annahm. In der Zwischenzeit leise Zweifel auch bei ihm selbst. Ich sehe jetzt doch schon möglicherweise langwierige Überzeugungsarbeit eventuell mit behördlicher Unterstützung ob eines Krankenhaustransportes auf uns zukommen.
Intermedio – während ich diesen Beitrag schreibe, läuft der Fernseher. Man ahnt es, ein Sender des von mir “liebevoll” so bezeichneten “Sozialfernsehens”. Es läuft eine Reportage über Fleisch- und Wurstherstellung. Ich entscheide, das zu ignorieren. Ich widme mich wieder dem Tablet und mache mir die Kopfhörer auf die Ohren und höre Draconian Radio auf Spotify, damit ich die gezeigten Widerwärtigkeiten nicht akustisch ertragen muss. Inzwischen sind Nicole und ich seit einem Dreivierteljahr fleischfrei und in tierischen Lebensmitteln stark eingeschränkt. Insbesondere aus ethischen Gründen, was kein Kunststück ist, wenn man mehrmals wöchentlich an einem Schlachthof vorbeifährt. Ich gehe – ohne Kopfhörer – zum Klo, komme wieder und schaue auf den Fernseher. Ich glaube nicht, was ich da sehe: Ein Zimmer mit Wursttapete. Mit WURSTTAPETE!! Mit WurstKISSEN auf dem Bett und vielen solchen Geschmacklosigkeiten mehr. Der Mensch, der diesen Medienmüll konsumiert sagt “Ein Wursthotel..” Ich versuche, mir möglichst nicht allzuviel anmerken zu lassen, und weiß jetzt schon, dass mir dieser Versuch gründlich misslungen ist. Kopfhörer auf, weiter im eigentlichen Text…
Wo war ich? Ach ja, auf dem Weg zum Ziel. Ich bitte den Mann, mir zu vertrauen, da er jetzt seinerseits an der Richtigkeit dessen, was wir sagen, zweifelt. Wir kommen ums nächste Eck, da hellt sich seine Miene auf. “Ach ja, da müssen wir rechts rein!” Ich reflektiere die Gesamtsituation: Wäre ich, jenseits der 90, nicht mehr so ganz gut zu Fuß, mitten auf der Straße in einem Moment der Schwäche zusammengeklappt (was ich jetzt nicht so furchtbar außergewöhnlich halte. Wenn man halt nicht mehr so im Training ist, wenn sonst gleichzeitig keine gravierenden Krankheitssymptome vorliegen, kann das in dem Alter doch jedem mal passieren), stünde dann noch plötzlich eine Horde wildfremder Menschen um mich herum, käme dann noch ein quietschroter “Unfallwagen” angeschossen und zwei Menschen mit roten Hosen begännen, allerlei Fragen zu stellen, ich wüsste jetzt schon, dass ich in einem solchen Fall vermutlich mehr als nur etwas irritiert wäre und mich erstmal sortieren müsste. Also weiter abwarten, ruhig Blut, es besteht keine akute Gefahr, und wir bringen jetzt erstmal den Guten zu seinem Date. Und tatsächlich, seine deutlich jüngerer Bekannte (sie betont: “Wir sind ja nicht Verheiratet!” Dieser Schlingel!) hat uns schon kommen sehen, und kommt uns entgegengelaufen! Sie habe sich schon Sorgen gemacht… Wir erklären gemeinsam die Situation. Da sie ehemaliges medizinisches Fachpersonal ist, er jetzt doch auch Hunger hat und es keinen echten Grund gibt, ihn am Wochenende noch in ein weit entferntes Krankenhaus zu zwingen, wo er dann bestenfalls zwei oder drei Stunden in der Notaufnahme auf den Entlassungsbrief warten darf, entscheiden wir gemeinsam, dass die Bekannte sich jetzt seiner annehmen darf. Immer natürlich mit der Maßgabe, jederzeit und sofort wieder uns (oder die Kollegen) zu rufen, wenn sich an seinem Zustand etwas verschlechtern sollte. Zusammen mit der Einsatzdokumentation übergeben wir den Mann den liebevollen Händen seines Dates. Einsatzende.
War das ein üblicher Rettungsdiensteinsatz? Teilweise. Bis zur genauen körperlichen Untersuchung des Patienten ja. War dieser Patient krank? Auch diese Frage kann man getrost mit Ja beantworten. Welcher über neunzigjährige Mensch ist noch vollkommen gesund? Waren die Grunderkrankungen Ursache für den Einsatz? Diese Frage lässt sich jetzt im Nachhinein nicht mit Gewissheit beantworten. Möglicherweise ja. Aber hat das jetzt ganz akut gravierende Folgen, so wie sich uns der Sachverhalt dargestellt hat? Letztlich nicht auszuschließen, aber höchstwahrscheinlich nein. Hätte eine Untersuchung im Krankenhaus gegen den erklärten Willen des Patienten bessere Erkenntnis gebracht? Eventuell ja, höchstwahrscheinlich aber nicht. Kann der Patient genauso gut am nächsten Tag zum Hausarzt gehen? Mit Sicherheit ja!
Haben wir so gehandelt, wie der Bürger es vom Rettungsdienst heutzutage gemeinhin erwartet? Äh … vermutlich eher nicht. Aber haben wir ein Problem gelöst? Ich meine, mit Sicherheit ja.
Waren alle am Einsatz Beteiligten mit dem Ergebnis zufrieden? Absolut ja!
Was soll ich sagen – ich liebe es, wenn ein Problem gelöst wird!